Ein Syrer erzählt vom selbst erlebten Terror durch die Muslimbrüder.


Die Muslimbruderschaft war und ist eine terroristische Organisation. Gesponsert von der Türkei, Katar und westlichen Staaten – nicht zuletzt der Bundesrepublik Deutschland – war ihr Konzept immer das Gleiche: soziale Durchdringung von Gesellschaften und nachfolgend die gewaltsame Machtübernahme. Terror gehörte unbedingt dazu.


Als ich mich im Vorjahr mit dem Mythos des „Massakers von Hama“ befasste, bekam ich als Reaktion unverhofft Post. Ein Zeitzeuge aus jenen 1980ger Jahren meldete sich und erzählte eine hautnah erlebte Geschichte, die zeigt, wie sich das so anfühlt, wenn „Oppositionelle“ – nach wertewestlichem Standard – gegen „Diktatoren“ – wieder nach wertewestlichem Standard – opponieren. Dieses Narrativ ist natürlich extrem verzerrend, denn was da in Wirklichkeit passiert(e), sind gewalttätige und menschenverachtende Aktionen einer ideologisch verbohrten und paramilitärisch aufgestellten Gruppe von Extremisten – jenen der Muslimbruderschaft – gegen beliebig Missliebige.

Bis heute wird in der Meinungsführerschaft sorgfältig darauf geachtet, die gewalttätige, mordende Rolle der Muslimbrüder beim Ausbruch des Syrien-Konflikts ja nicht zu thematisieren. Die märchenhafte Geschichte vom Volksaufstand könnte ja ins Wanken geraten.


Bomben in Damaskus, 13. April 1980

Eine Augenzeugengeschichte von Achmed Khammas


„Hier, schauen Sie mal!“, ich schob die Ansichtskarte über den Tisch. Frau Janes pflückte sie von der Glasplatte und blickte interessiert auf das schwarz-weiße Bild. „Sie waren vor dem Mauerbau doch bestimmt mal in Westberlin, oder etwa nicht?“, grinste ich etwas provozierend. Edith Janes kam aus Halle, hatte einen Palästinenser geheiratet und war mit ihrem Mann nach dessen Studienabschluß nach Damaskus übergesiedelt. Es war eine der wenigen Möglichkeiten, die DDR legal zu verlassen. Man konnte auch regelmäßig zu Besuch hinfahren, ohne Nachstellungen der Stasi befürchten zu müssen. Außerdem galt Syrien ja als „sozialistisches Bruderland“.

Unter den verschiedenen Sekretärinnen, die wir im Laufe der Jahrzehnte in unserem Ingenieurbüro beschäftigt hatten, hielt Edith den absoluten Rekord in Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit. Man konnte im wortwörtlichen Sinne die Uhr nach ihr stellen – und das, obwohl sie jeden morgen die sechs oder sieben Kilometer zwischen ihrer am Hang des Kassioun gelegenen Wohnung und unserem Büro zu Fuß zurücklegte.

Ihr Mann hatte eine mittlere Position im Elektrizitätsministerium, und eine der beiden Töchter wurde Jahre später zur Chefsekretärin des Deutschen Archäologischen Instituts. Ich besuche Amal dort noch heute jedes mal, wenn ich mich in Damaskus aufhalte. Ist Verlässlichkeit eigentlich vererbbar?

Ich beugte mich über den Schreibtisch und schob ein paar Ansichtskarten beiseite, die inzwischen einen Großteil der Fläche bedeckten. Wir hatten gerade mal wieder nichts zu tun, und beim Stöbern in den Schubladen war mir der dicke, von einem roten und schon leicht ausgetrockneten Gummiband zusammengehaltene Stapel in die Hände gefallen. Die Ansichtskarten aus verschiedenen europäischen und arabischen Städten gehörten meinem Vater.

„Sehen sie das Kranzler hier? Das war das Café, in dem sich die Iraker damals immer getroffen haben, hat Papa erzählt. Das sieht heute noch genauso aus. Aber das Haus gegenüber… ja, dieses hier, das steht inzwischen nicht …“

Die Explosion riss mir die restlichen Worte von den Lippen, während uns die zerborstenen Fenstersplitter um die Ohren flogen. Der donnernde Schlag und dann das Klirren wie von einem Dutzend herunterrieselnder Kronleuchter. Die Luft voller Staub und in meinen Ohren ein Klingeln wie nach einem heftigen Rockkonzert. Der Schreck kam erst mit Verzögerung – und mit ihm die Sorge umeinander. „Um Gottes Willen, was war das? Ist Ihnen was passiert…?“ Ich sprang auf und rutschte auf dem herumliegenden Glasbruch fast aus. Doch wie durch ein Wunder waren wir beide völlig unverletzt geblieben.

Unser Ingenieurbüro befand sich seit 1960 im dritten und obersten Stock eines modernen Geschäftshauses an einem der imposantesten Plätze der Stadt, genau gegenüber dem wuchtigen Bau der Syrischen Zentralbank, vor dem zwei assyrische Löwen ihre steinerne Wacht hielten. Ein paar Jahre später war die Führung der regierenden Baath-Partei in ein hübsches Gebäude im französischen Kolonialstil eingezogen, direkt neben uns. Die Bombe war zwischen den beiden Gebäuden platziert worden – zu unserem Glück jedoch an der uns abgewandten Seite eines massiven Notstrom-Containers, den man in den Freiraum zwischen den zwei Häusern gequetscht hatte.


Damaszener Gebäude, in dem das Ingenieurbüro von Achmed Khamman untergebracht war (rechts im Bild) (b1)

Glasbruch hatten wir schön häufiger erlebt. Es gab eine Zeit, in welcher die Luftwaffen Syriens und Israels miteinander wetteiferten, mit ihren Maschinen die Radarstellungen zu unterfliegen und in niedriger Höhe über Damaskus beziehungsweise Tel Aviv die Schallmauer zu durchbrechen. Ich behauptete damals, dass dies eine Verschwörung der Glasindustrie beider Ländern sein musste, den nach jedem Knall zog sich eine kilometerweite Schneise an zerstörten Fenstern durch die jeweils betroffene Stadt, und in den darauf folgenden Tagen stank es überall nach frischem Fensterkitt.

Aber eine Bombe?! So etwas hatten wir noch nicht erlebt. Stumm und fassungslos blickten wir auf die zerborstenen Fenster, in deren Rahmen nur noch ein paar Glasecken feststeckten. Frau Janes schaute mich mit aufgerissenen Augen an, der Adrenalinschock hatte uns beiden die Stimme verschlagen. Auch draußen war der Verkehr zum Erliegen gekommen. Nun begannen wir das aufgeregte Geschrei von unten zu hören, aber immerhin keine Schmerzensschreie. Langsam beruhigten wir uns, schauten abwechselnd durch die leeren Rahmen hinaus und auf das Chaos im Büro. Die ersten Sirenen der Rettungswagen näherten sich, während Frau Janes und ich mit Besen und Handfeger mit den Aufräumarbeiten begannen.

Es war der erste Schlag der Moslembrüder gegen das sozialistische, laizistische Regime der Baath-Partei. Auch wenn diese erste Bombe in erster Linie nur Sachschaden angerichtet hatte, so bildete sie doch den Beginn einer Kette blutiger Attentate und mörderischer Anschläge, die im Februar 1982 in dem Versuch gipfelten, von der mittelsyrischen Stadt Hama aus eine islamistische Revolution anzuzetteln.

Als Jahre später der „Krieg gegen den Terror“ internationale Schlagzeilen machte, hatten ihn die Syrer schon fast wieder vergessen. Doch damals waren wir an vorderster Front – und das im wörtlichen Sinne. Denn auch die zweite Bombe, die auf den Ministerrat zielte, welcher sich links hinter der Zentralbank befand, zerschlug wiederum alle Scheiben unseres Büros. Der mit Sprengstoff beladene Wagen explodierte direkt unter dem Ratssaal und war dermaßen vollgeladen, dass der Saalboden einmal kurz gegen die Decke klatsche. Auch diesmal war es ein Wunder, dass außer einem Wachmann niemand zu Tode kam, dabei hätte ein erfolgreicher Anschlag das gesamte Kabinett auf einen Schlag ausradiert!

Aber vielleicht sollte man es nicht ein ‚Wunder‘ nennen, dass die Minister und ihre Mitarbeiter überlebt hatten, sondern als einen klaren Hinweis auffassen, dass sich Höflichkeit und Anstand letztlich doch auszahlen … auch wenn es manchmal auf völlig unerwartete Art und Weise geschieht. Denn geschehen war das Folgende:

Ministerpräsident Abdel-Raouf al-Kassem zog das Mikrofon etwas näher heran und räusperte sich ein paar mal, bis die leisen Gespräche und das Papierrascheln im Raum endlich erstarben. „Brüder, wie ihr wisst, wurde gestern das neu gewählte Volksparlament vereidigt, ich denke wir sollten jetzt rüber fahren und den Leuten unsere Glückwünsche überbringen.“ Zwischenrufe wie „was sollen wir in der Quasselbude?“, „wir haben aber zu arbeiten …“ oder „ein Telegramm sollte ja wohl reichen!“ mischte sich Hohngelächter und abschlägiges Winken seitens der Exzellenzen.

Al-Kassem lächelte aufmunternd in die Runde. „Liebe Brüder, ihr habt ja recht. Trotzdem. Es ist einfach ein Gebot der Höflichkeit. Außerdem können wir in einer halben Stunde wieder zurück sein. Gebt euch einen Ruck!“ Doch niemand machte Anstalten aufzustehen, einige lehnten sich sogar betont in ihren samtbezogenen Sesseln zurück und verschränkten die Arme, während weitere Proteste und Weigerungen ertönten. Das Lächeln im Gesicht von Abdel-Raouf wurde schmaler.

Der gelernte Architekt – er war mit einer Deutschen verheiratet, die regelmäßig bei dem schon Ende der 1950er Jahre von meiner Mutter mitgegründeten ‚Kaffeeklatsch‘ mit dabei war – machte einen weiteren Vorstoß, der jedoch ebenso abgeblockt wurde. Wütend stieß Al-Kassem seinen Sessel zurück, stand so schnell auf, dass einige der vor ihm liegenden Papiere vom dem riesigen runden Tisch zu Boden flogen und schlug mit aller Härte auf das blank polierte Holz. Direkt neben dem Mikrofon. Erschrecktes Schweigen breitete sich aus, so hatte man den schmalen und nur gut 160 cm großen Mann noch nie erlebt.

Khalass… kafi! In diesem Fall bleibt mir nicht anderes übrig, als euch in meiner Funktion als Ministerpräsident zu befehlen, sofort in eure Wagen zu steigen und mir zum Parlament zu folgen.“ Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden. „Es gibt eine Grenze. Auch für Euch! Und es gibt eine Tradition. Bei Gott! Ich werde dafür sorgen daß jeder von euch seinen Posten verliert und aus der Partei ausgeschlossen wird, der jetzt auch nur EIN Wort sagt! Es reicht…khalass!“ Wutentbrannt wirbelte er herum und raste so schnell aus dem großen Raum, dass die Saaldiener es kaum schafften, die schweren Eichentüren vor ihm aufzureißen.

Zwischen dem Ministerrat und dem Parlament liegen vielleicht 1.000 Meter – eine Strecke, für welche die Karawane der schwarzen Mercedes-Limousinen kaum eine Minute brauchte, da die vorauseilende Motorradeskorte die Straßen in aller Eile freigemacht hatte.

Und so hörten die inzwischen etwas kleinlauten und nun eifrig Hände-schüttelnden Minister den gewaltigen Knall nur allzugut, der selbst im Parlament noch einige Scheiben aus ihren Rahmen riss. Zehn Minuten später erbleichten sie unisono, als ihnen klar wurde, wem der Anschlag eigentlich gegolten hatte. Da hatten wir die meisten Glassplitter bei uns schon aufgefegt.

Ohne den Befehl von al-Kassem hätte nicht einer von ihnen überlebt. Es ist nur allzu verständlich, dass der Mann seitdem sakrosankt war – denn das gesamte syrische Kabinett hatte ihm sein Leiben zu verdanken. Al-Kassem wurde später Chefkoordinator des Präsidenten für die verschiedenen Geheimdienste und verschwand fast völlig aus der Öffentlichkeit.

Nachtrag:

Die erste PKW-Autobombe mit über 200 Toten, nur wenige Wochen später, verfehlte ich um knapp 10 Minuten. Ich hätte sonst vermutlich direkt hinter dem Sprengstoffwagen geparkt.

Als die Moslembrüder 1982 mit Waffengewalt von Hama ausgehend einen Islamischen Staat ‚erputschen‘ wollten, reagierte Präsident Hafez al-Assad ohne Rücksicht auf Kollateralschäden. Danach erlebte das Land Jahrzehnte voller Sicherheit und Stabilität.


Anmerkung und Quellen

(Allgemein) Dieser Artikel von Peds Ansichten ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen – insbesondere Verlinkung und der expliziten Aufführung des Autors Achmed Khamman – kann er gern weiterverbreitet und vervielfältigt werden.

(b1) Damaszener Gebäude, in dem das Ingenieurbüro von Achmed Khamman untergebracht war (rechts im Bild); Privataufnahme des Autors aus den 1970ger Jahren; Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors

(Titelbild) Glas, Explosion, Splitter; Autor: stokpic (Pixabay); 26.5.2014; https://pixabay.com/de/glas-explosion-schauer-scherben-601569/; Lizenz: Pixabay Lisence

Von Ped

3 Gedanken zu „Wahre Terrorgeschichten“
    1. Na ja, so jung ist er ja nun auch wieder nicht. 😉
      Aber das könnte tatsächlich passen. Ich mach mich dazu mal schlau.

      Herzlich, Ped

      Nachtrag: Ja, Andrej, Ihre Vermutung trifft zu, danke für den Hinweis.

Kommentare sind geschlossen.