Aber haben die kurdischen Eliten in Syrien das auch begriffen?


Vor mehr als anderthalb Jahren hat sich ein Szenario abgespielt, das sich durchaus mit den aktuellen Ereignissen in Nordsyrien vergleichen lässt. Damals marschierte die türkische Armee in der bis dahin von Kurden besetzten Provinz Afrin ein. Befassen wir uns daher mit den Parallelen aber auch den Veränderungen im Vergleich zur Lage im Syrien des Jahres 2018.


Die derzeitige Berichterstattung über eine erneute völkerrechtswidrige Intervention der Türkei in Nordsyrien – das ist sie ganz ohne Zweifel – lässt alle Narrative des Wertewestens über den Syrien-Konflikt in einer, für den Medienkonsumenten nur schwer durchschaubaren Suppe aus Desinformation, Lügen, Monokausalitäten, Umkehrung von Kausalitäten, Selektion und nicht zuletzt moralischer Floskeln aufgehen. Daher am Anfang dieses Textes eine Auswahl von vordergründig wie hintergründig vermittelten Hauptsentenzen derzeitiger westlicher Medienberichterstattung:

  • Die kurdischen Milizen trugen die Hauptlast im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS).
  • Trump lässt die Kurden im Stich.
  • Wenn die westlichen Truppen und ihre Verbündeten Syrien verlassen, wird der IS wieder erstarken.
  • Die Kurden stehen zwischen den Stühlen und werden allein gelassen.
  • Die Kurden haben das Recht auf einen eigenen Staat (auf syrischem Boden).

Diese Sentenzen sind so falsch, wie sie als Einheitsmeinung, ja gegebene Tatsachen, vorgetragen werden.


Die Berechenbarkeit des Donald Trump

Der Krieg, den die Türkei nun in Syrien neu anheizt, ist daher eine weitere ausgezeichnete Gelegenheit, darauf hinzuweisen, wie wir hierzulande durch die Medien desinformiert und manipuliert werden. Die ARD-Tagesschau schrieb:

Der Einmarsch der Türkei in Nordsyrien folgte auf Trumps überraschende Ankündigung, [US-]amerikanische Soldaten aus der Grenzregion abzuziehen – was auf große Empörung stieß.“ (1)

„Große Empörung“ – von wem? Allein die Anwendung dieser emotional ausgerichteten Plattitüde bereitet den Konsumenten schon darauf vor, wie er das folgende doch bitteschön einzuordnen hat.

„Trumps überraschende Ankündigung“ verkörpert eine Lüge, welche die ARD-Tagesschau frank und frei verbreitet. Denn der US-amerikanische Präsident Donald Trump hat seit Jahren immer wieder betont, dass er das US-Militär aus Syrien abzuziehen gedenkt. Schauen Sie, liebe Leser, wie überrascht die ARD-Tagesschau schon einmal, im Dezember 2018 war:

Die US-Regierung hatte gestern überraschend den Truppenabzug verkündet. Man habe bereits damit begonnen, Soldaten aus Syrien abzuziehen, teilte das Weiße Haus mit. Die USA hätten das „territoriale Kalifat“ der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) besiegt.“ (2)

Dabei hatte das gleiche Medium im gleichen Artikel geschrieben: „Trump hatte bereits Ende März verkündet, «unsere Truppen nach Hause zu holen»“. Die Vorstöße Trumps sind also konsequent wie schlüssig und sein Verhalten grundsätzlich ganz und gar nicht unberechenbar. Gehen wir von der strategischen Ebene herunter auf die taktische Ebene, dann ist diese Unberechenbarkeit natürlich sehr wohl gegeben. Trump ist kein Alleinherrscher und in den USA findet nach wie vor ein erbitterter Kampf um die Macht im Weißen Haus statt.

Kritiker werteten dies als grünes Licht der [US-]Amerikaner für Ankara, eine Offensive zu starten. Ein ranghoher Regierungsbeamter aus dem Außenministerium wies das zurück und betonte erneut, die USA sähen das Vorgehen der Türkei als „großen Fehler“ und hätten keineswegs grünes Licht dafür gegeben, sondern im Gegenteil ihren großen Widerstand dagegen klar gemacht.“ (3)

Als Trump im Dezember 2018 seinen Willen, das Militär aus Syrien abzuziehen, verkündete, klang es bei der ARD-Tagesschau – wirkmächtig in Titel und Einleitung platziert – so:

US-Truppenabzug aus Syrien

Schwerer Fehler mit bösen Folgen?

Stand: 20.12.2018 03:28 Uhr

Der US-Präsident ordnet den Rückzug der [US-]amerikanischen Truppen aus Syrien an. Dafür erntet er Kritik von vielen Seiten – und auch ungewolltes Lob. Trump verteidigt seine Entscheidung unterdessen.“ (4)

Das „ungewollte Lob“ war natürlich das der russischen Seite, „ungewollt“ allerdings eine Unterstellung der ARD-Tagesschau, dass Donald Trump dieses Lob peinlich sein muss, denn es kommt ja von den „Feinden der Demokratie“. So schwingt nebenläufig die verinnerlichte Indoktrination in der Berichterstattung der Tagesschau ständig mit.

Erinnern wir uns an den Januar 2018:

Seit dem vergangenen Samstag ist die türkische Armee mit Bodentruppen in die nordsyrische Provinz Afrin eingerückt, um die mit den USA verbündete Kurdenmiliz YPG zu vertreiben. Ziel der Operation „Olivenzweig“ ist nach den Worten von Ministerpräsident Binali Yıldırım die Einrichtung einer 30 Kilometer breiten Sicherheitszone.“ (5)

Die sich – aus meiner Sicht – stetig verändernden Machtverhältnisse im Weißen Haus spiegeln sich im Syrienkrieg wieder. Damals, Anfang 2018, war der Einfluss der ziokonservativen Fraktion offenbar noch deutlich stärker und trat eindrucksvoll in der Person John Boltons hervor.

Eine solche Pufferzone wollten auch die USA im Norden Syriens an der Grenze zur Türkei und dem Irak schaffen – allerdings gemeinsam mit der YPG, die für die US-Armee wichtige Verbündete im Kampf gegen die Extremisten der IS-Miliz ist.“ (6)

Das ist falsch. Richtig muss es heißen: „[…] mit der YPG, die für die US-Armee wichtige Verbündete im Kampf gegen das Syrien unter der Regierung Baschar al-Assads sind„. Man erinnere sich nur an das „Wettrennen“ im Jahre 2017, als es der syrischen Armee unter großen Opfern gelang, den IS immer weiter nach Osten zurückzudrängen. Plötzlich und wie auf Knopfdruck gelangen den kurdischen Milizen riesige Raumgewinne im vom Islamischen Staat besetzten syrischen Territorium östlich des Euphrats. Wundersamer Weise ging dann so auch die Kontrolle über die wichtigsten syrischen Ölquellen direkt vom IS auf die SDF über.

Es ist jahrzehntealte Tradition US-amerikanischer Außenpolitik, Spaltpilze in und zwischen Gesellschaften zu treiben. Die USA führten (und führen) in Syrien mit den Kurden eine doppeltes Spiel. Dieses richtet sich nicht nur gegen die syrische Einheit, sondern sehr wohl auch gegen die Türkei. Man plant Spannungen und Brüche, damit der Vorwand gegeben ist, „vermittelnd einzugreifen“, wie man auch verhindert, dass Staaten zuviel an Stabilität und Souveränität gewinnen, was für die Durchsetzung eigener Interessen eher hinderlich wäre.

Das Herumtrampeln auf der syrischen Souveränität war zu keiner Zeit ein Problem, weder für die Türkei noch für die USA (und im übrigen auch nicht für Deutschland). WER aber die Kontrolle über die sogenannte Sicherheitszone ausüben sollte, war strittig und zwar sowohl zwischen den beiden Staaten als auch innerhalb der politischen Führung in den USA. Was die Türkei alarmierte, war die beabsichtigte und umgesetzte Installation eines Pseudo-Kurdenstaates an ihrer südlichen Staatsgrenze. Das wurde im Jahre 2014, mit der Inszenierung von Kobane, ganz offensichtlich.

Vergessen wir nicht, dass die USA bis heute einen „Sonderbotschafter“ für Ostsyrien, William Roebuck, vorhalten (7) und die Pläne der „kleinen Syrien-Gruppe“ Syrien aufzuspalten, keinesfalls auf Eis gelegt sind. Nach wie vor führen die USA und ihre Verbündeten auf politischer wie wirtschaftlicher und verdeckt auch auf militärischer Ebene einen brutalen Zermürbungskrieg gegen Syrien.

Während westliche Politiker und Medien wieder und wieder ihre Sorge um die Zivilbevölkerung sowie die Kurden heuchelten, verhinderten die „Freunde Syriens“ seit Ausbruch des Syrien-Krieges wirksam jede Teilnahme syrisch-kurdischer Vertreter an der sogenannten „syrischen Opposition“, die unter anderem in Berlin zusammengestellt worden war und das „neue Syrien“ bei den Genfer Verhandlungen der UNO vertritt. Abdulselam Ali, ein PYD-Funktionär – die PYD ist der politische Arm der syrischen Kurden – sprach dazu solche im westlichen Mainstream wohlweislich unter den Tisch gekehrte Wahrheiten aus:

Islamistische Rebellengruppen seien in Genf vertreten, seine eigene Partei dagegen nicht, schimpfte er laut türkischen Medienberichten. Ohne Einladung nach Genf werde die PYD die dort erzielten Vereinbarungen nicht anerkennen.“ (8)

Nebenbei: Er meinte möglicherweise tatsächlich Rebellen, doch Rebellen sind das nicht. „Islamistische Gruppen“ und „Rebellen“ streben nach unterschiedlichen Zielen.

Die Vorstöße des US-Präsidenten, die völkerrechtswidrige Präsenz des US-Militärs in Syrien zu beenden, ernteten übrigens auch immer die gleichen Reaktionen des politischen Establishments hier und dortzulande. Hauptargument war immer, dass mit dem Abbruch der „Stabilisierungsmaßnahmen“ – so nennt man neuerdings Kriege in anderen Ländern – die Gefahr eines Wiedererstarkens des Islamischen Staates (IS) heraufbeschworen würde (9,10). Nun ist aber gerade der „Kampf gegen den internationalen Terrorismus“ eine der größten Lügen der jüngeren Geschichte.


Die Hilfstruppen von Inherent Resolve

Ein Paradigma des „Teile und Herrsche“ westlicher Großmachtpolitik bestand schon immer darin, Schwächen von Gesellschaften zu erkunden und die darin vorhandenen Probleme absichtsvoll in Konflikte münden zu lassen. Diese nahm man zum Anlass, um zu helfen, zu befrieden. Kurz gesagt lautet das Paradigma: Schaffe ein Problem und biete dann die bereits vorgeplante Lösung an.

Dass die Entstehung und Funktion des IS in Syrien und im Irak letztlich die Wiederholung dessen ist, was im Afghanistan ab 1979 die Mudschahedins waren, dringt nicht zu den Menschen hierzulande durch (11). Der IS ist eine subtil von außen gesteuerte Armee von Gotteskriegern, die meinen ihre eigene Agenda umsetzen zu können, letztlich aber doch als Proxies die blutige Drecksarbeit für jene verrichten, deren Interessen im Opferland zu wahren sind.

Die militärischen Erfolge des IS in den Jahren 2012 bis 2015 erklären sich aus dem ungehinderten Zugang zu Waffen und Munition, Technologietransfer, Aufklärungsdaten, wirtschaftlichen Ressourcen und dem weltweiten Finanztransfersystem (SWIFT). Dafür waren – ganz speziell für den IS – von den „Freunden Syriens“ offene Grenzen geschaffen wurden. Logistik, medizinische Behandlung und Ausbildung lief sämtlich über Bündnismitglieder von Inherent Resolve.

Man muss die Lüge nur dick genug auftragen und so oft und breit wie möglich streuen. Dabei muss reichlich mit moralischen Begrifflichkeiten der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft herumgeworfen werden. Das schlucken die Menschen – so auch diese gigantische Lüge:

Die Bezeichnung „Inherent Resolve“ solle die „unerschütterliche Entschlossenheit und tiefe Hingabe“ der USA und ihrer Partnernationen in der Region und weltweit im Kampf gegen den IS widerspiegeln, hieß es in einer Mitteilung des US-Zentralkommandos in Tampa (Florida). Sie symbolisiere außerdem die Bereitschaft und Verpflichtung der USA und der Bündnispartner, „eng mit unseren Freunden in der Region zusammenzuarbeiten und alle verfügbaren Mittel nationaler Macht (…) anzuwenden, die zur Schwächung und letztendlich Zerstörung des IS nötig sind“.“ (12)

Inherent Resolve vereinigt nachweisbar (!) die Geldgeber, Ausrüster, sowie ideologischen, politischen und medialen Unterstützer jener Terroristen, die unter verschiedenen Flaggen insbesondere den Irak und Syrien seit über einem Jahrzehnt heimsuchen. Das sind:

die USA, Deutschland, Großbritannien, Kanada, Australien, Neuseeland, Bahrain, Jordanien, Polen, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Singapur, Marokko, Katar, Belgien, Dänemark, Frankreich, Italien, die Niederlande, Schweden, Finnland, Norwegen, Spanien und die Türkei (13).

Auch wenn zum Beispiel Staaten wie Finnland, Schweden, Dänemark oder Spanien reine Vasallendienste für den Hegemon leisten, entbindet sie das nicht aus der Verantwortung für aktiv mitgetragene Kriege gegen andere Staaten und mir ist wichtig festzuhalten, dass nicht nur Krieg gegen Syrien sondern auch gegen den Irak und natürlich auch gegen Afghanistan geführt wird.

Diese Terroristenunterstützer schufen also mittels ihrer religiös fanatisierten Zombies am Boden erst den Grund, die Kurden zu bewaffnen und sie in militärische Strukturen einzubinden. Die Kurden zu bewaffnen, war also keine aus der Not geborene Lösung – nach dem beliebten Motto: „Wir müssen jetzt handeln!“ – sondern von Beginn an Teil des Konzepts. Die Kurdenkarte wurde gezogen, um Syrien und übrigens auch den Irak zu spalten, damit ein oder mehrere neue Vasallenstaaten installiert werden konnten. So etwas nennt man auch Staatsterrorismus.

Daher waren kurdische Milizen auch niemals so frei, im Interesse ihres Volkes zu kämpfen. Nein, sie warteten, eingebunden in Befehlsstrukturen, auf Weisungen von oben. Schlüssigerweise sagte im Jahre 2016 der damalige Sprecher der SDF, Talal Silo (Übersetzung durch Autor):

Es ist verboten, mit den Russen zu verhandeln, weil wir ein Bündnis mit den Vereinigten Staaten anstreben. Es ist unmöglich, mit einer anderen Partei zu kommunizieren, um nicht die Glaubwürdigkeit der internationalen Koalition zu verlieren. Natürlich sind wir frei, aber wir dürfen nicht angreifen, wenn es kein Signal von den [US-]Amerikanern gibt.“ (14,15)

Die Tragik der Kurden besteht darin, dass sie, hofiert und vom Ego der eigenen Führer berauscht, die ihnen zugedachte Rolle – die sie bislang auch ganz konkret ausfüllten – genauso wenig erkannt haben, wie die Kämpfer des IS, oder die anderer islamistischer Milizen, ja jedweder „Opposition“ und „Moderaten“, die in Syrien und dem Irak bewaffnet gegen die Zentralregierung kämpfen.

Das berücksichtigend, ist die massenmediale Botschaft, Trump hätte die Kurden verraten, desinformierend und sucht eine Solidarisierung vom Publikum zu bekommen (16). Was übrigens erneut gelungen ist. Solidarisierung bedeutet auch Polarisierung: Einmal für die armen, unschuldigen Kurden (Mitleid, Mitgefühl, Sehnsucht zu helfen), auf der anderen Seite gegen den herzlosen, unberechenbaren Trump (wäre er doch schon weg). So wird Meinung gebildet: über ganz schlichte emotionale Trigger.

Emotional sein heißt, befangen zu sein. Diese Befangenheit ist vielen Protagonisten nicht bewusst. Trump konnte die Kurden überhaupt nicht verraten, weil sie nämlich niemals wirkliche Partner der USA waren, sondern stets und ausschließlich Mittel zum Zweck, nützliche Werkzeuge einer Noch-Weltmacht.

Die Besetzung bisher von kurdischen Organisationen – unter gütiger Erlaubnis ihres Patrons aus Washington – beherrschten Gebieten führt zu einer Auflösung der Machtstrukturen dort. Sie verhindert dabei wirkungsvoll einen Bruderkrieg der syrischen Armee gegen die Kurden Syriens, die inzwischen auch als Staatsbürger des Landes vollständig anerkannt sind. Ein solcher Krieg wäre zudem noch mit immensen Opfern verbunden, da ja Inherent Resolve mit seiner Militärmacht wenigstens hintergründig in den Krieg eingegriffen hätte. Deshalb ist auch der Abzug westlicher, vor allem der US-Soldaten aus Syrien so wichtig.


Die Nöte der Türkei

Es lohnt sich, noch etwas genauer zu hinterfragen, warum die Türkei nun ein weiteres Mal in Nordsyrien mit dem Feuer spielt. Allein mit der Paranoia vor den Kurden (17) lässt sich das nicht ausreichend erklären.

Da sind zum Einen etwa drei Millionen Flüchtlinge aus Syrien, die unter mehr oder weniger legalen und teils unwürdigen Verhältnissen in der Türkei Schutz gesucht haben. Lassen wir einmal außen vor, dass die Türkei für diese Millionen bedauerlicher Einzelschicksale ein gerüttelt Maß Verantwortung mit trägt – gemeinsam mit ihren westeuropäischen „Partnern“ und den USA.

Doch Fakt ist: Diese Millionen Menschen bergen für die Türkei großen sozialen Sprengstoff.

Man sollte deshalb Drohungen des türkischen Präsidenten Recep Erdogan, die Grenzen für die dortigen Flüchtlinge in Richtung EU-Raum zu öffnen, keinesfalls nur als Luftblasen interpretieren (18).

Innerhalb dieser Millionen von Vertriebenen finden sich nun aber auch zehntausende ehemalige oder aktive Extremisten, entsozialisierte, indoktrinierte, gewaltbereite, religiöse Fanatiker.

Unter anderem deren Existenz ist einer der Gründe, warum sich die Türkei sträubt, den „Terroristenzoo Idlib“ zu beräumen. Dazu hatte sie sich im Astana-Prozess verpflichtet.

Die türkischen Pläne könnten tatsächlich einem Konzept folgen, dass beinhaltet, alle Flüchtlinge und alle „Moderaten“, „Oppositionellen“, also alle Umgeflaggten und mehr oder weniger radikalen islamistischen Kämpfer mit der laufenden Operation nach Syrien zu verfrachten und dann die eigenen Grenzen wieder dicht zu machen (19).

Denn: Es ist doch davon auszugehen, dass, wenn die syrische Armee wieder die Kontrolle über ganz Syrien übernimmt, damit auch die Kontrolle der Grenze zur Türkei einhergeht und die Türkei somit auf ihrem selbst geschaffenen Problem, mitsamt der Menschen, insbesondere der terroristischen Milizen, schlicht und einfach sitzenbleibt. Mit der nachhaltigen Veränderung der demografischen Struktur im Norden Syriens, könnte die Türkei versuchen, sich dieses Problems zu entledigen.

Das würde auch die Zerstörung historisch gewachsener kurdischer Strukturen in Nordsyrien einschließen. Dem geschundenen Nachbarland werden damit zwangsläufig neue Konfliktherde aufgehalst.

Wie auch immer, weisen die Ereignisse im Syrien des Jahres 2019 weiterhin auf eine absehbare, vollständige Wiederherstellung der syrischen Souveränität hin. Die türkische Intervention in Nordsyrien dazu sehe ich – bei aller gebotenen Vorsicht – doch temporär und daher auch nicht als Widerspruch.

Dann gibt es da noch etwas: Ego.

Sowohl die politischen Führer in den USA, als auch die der Türkei müssen die desaströsen Ergebnisse ihrer Syrien-Politik in Erfolge ummünzen. Trump kann einen glorreichen Sieg über den Islamischen Staat verkünden. Erdogan verhindert erfolgreich das Erstarken „kurdischer Terroristen“.


Und die Kurden?

Die kurdischen Führer hatten schon einmal, im Januar 2018 die Gelegenheit, Farbe zu bekennen – und nutzten diese nicht. Während die türkische Armee und von der Türkei und anderen bekannten Verdächtigen bezahlte, zum großen Teil umgeflaggte islamistische Milizen, im Schneckentempo in Afrin einrückten, warteten Syrien und Russland geduldig auf die Botschaft der YPG und SDF, die sich zum Erhalt der Einheit des Landes bekennt – vergeblich.

Nun erleben wir, dass Afrin 2018 letztlich das Vorspiel (20) zu diesem, viel größeren Szenario bedeutet. Innerhalb dessen besitzen die kurdischen Führer heute allerdings größere Freiheitsgrade bei der Entscheidungsfindung, wie und wo sie ihre Rolle im zukünftigen Syrien sehen möchten. Sie können zeigen, ob sie nur Vasallen einer fremden Macht oder vielleicht doch Souverän der syrischen Kurden sind.

Entscheidend an den derzeitigen Ereignissen ist nicht die Intervention der Türkei in Syrien, sondern der Abzug US-amerikanischer Truppen aus Syrien. Der Einmarsch türkischer Truppen ist ein klarer Völkerrechtsbruch, da kann es keine Zweifel geben und für die Kurden bedeutet das nichts Gutes. Aber das lässt sich – ohne die Anwesenheit des „wohlwollenden Hegemons“ – durchaus klären und das wird es auch.

Dort gibt es nämlich eine gemeinsame Interessenlage von vier Staaten, die allesamt mit dem gleichen Problem konfrontiert sind, bestehend in der Ausnutzung der Kurden durch ausländische Mächte zur Unterminierung der staatlichen Einheit und Souveränität. Diese Staaten sind der Iran, Irak, Syrien und eben auch die Türkei.

Trump muss sich – und das weiß er auch – mit seinen neuerlichen Vorstoß auf eine ebenso heftige Gegenwehr einstellen, wie schon elf Monate zuvor. Das Empörungs-Management von Washington Post, New York Times und Co. läuft bereits, und wie erwartet, an (21,22). Ein vollständiger Rückzug westlicher Militärs aus Syrien innerhalb weniger Wochen ist wohl keine realistische Option.

Die Verhandlungsbasis der durch den CIA-gesteuerten Barsani und die USA gezüchteten syrisch-kurdischen Politiker jedoch, ist nun deutlich schlechter, als sie es vor dem Januar 2018 war. Das ändert trotzdem nichts daran, dass die kurdische Bevölkerung nach diesem mörderischen Krieg gegen Syrien eine neue, bessere Perspektive innerhalb der syrischen Gesellschaft bekommt. Wie viel besser, das hängt auch entscheidend vom Verhalten ihrer Führer in den kommenden Wochen ab.

Wenn die SDF und YPG umgehend und unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass sie die Souveränität Syriens anerkennen und in ernsthafte Gespräche mit der syrischen Regierung eintreten, ist auch eine Übernahme der Grenzkontrolle zur Türkei durch die syrische Armee durchaus rasch umsetzbar.

Gleichzeitig entfällt dann der entscheidende Vorwand seitens der Regierung Erdogan für die Intervention in Nordsyrien. Denn sie beruft sich – durchaus zu Recht – auf die Einhaltung des Adana-Abkommens mit Syrien aus dem Jahre 1998. Damals wurde vertraglich vereinbart, dass sich die syrische Armee – statt kurdischer Sicherheitskräfte – zur Grenzsicherung in Richtung der Türkei verpflichtet (23). Genau das aber haben die USA, als sie die kurdische Karte zogen, hintergangen.

Die kurdischen Politiker sind – auch im Interesse der kurdischen Bevölkerung, für die sie vorgeben zu stehen – angehalten, endlich zu liefern. Dabei kann Russland, das stabile Beziehungen sowohl mit Syrien, als auch der Türkei und schließlich auch mit den syrischen und irakischen Kurden pflegt, eine wichtige, vermittelnde Rolle spielen (24).

Nachgetragen, nach Fertigstellung des Artikels: Bewegungen der Syrischen Arabischen Armee (SAA) weit im Osten Syriens, bei Hasakah, in Richtung syrisch-türkischer Grenze, signalisieren ein mögliches Umdenken der kurdischen Führung (25). Laut Southfront gibt es zudem einen, bislang zumindest nicht offiziell bestätigten Deal der kurdischen Führung mit Syrien, nachdem die SAA im Raum Mambij innerhalb der nächsten zwei Tage bis Kobane an der türkischen Grenze vorstoßen kann (26). Dieser Deal soll unter anderem durch Vermittlung Russlands zustande gekommen sein (27). Inzwischen sieht es sogar so aus, dass kurdische Verbände aktiv mit der syrischen Armee kooperieren, um weiteren Besetzungen innerhalb Nordsyriens durch türkische Truppen beziehungsweise deren Proxies zuvorzukommen (28).

Bitte bleiben Sie schön aufmerksam.


Anmerkungen und Quellen

(Allgemein) Dieser Artikel von Peds Ansichten ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen kann er gern weiterverbreitet und vervielfältigt werden. Bei Verlinkungen auf weitere Artikel von Peds Ansichten finden Sie dort auch die externen Quellen, mit denen die Aussagen im aktuellen Text belegt werden.

(1,3) 11.10.2019; https://www.tagesschau.de/ausland/trump-waffenstillstand-syrien-101.html

(2,10) 19.12.2018; https://www.tagesschau.de/ausland/usa-truppen-syrien-101.html

(4) 20.12.2018; https://www.tagesschau.de/ausland/trump-syrien-111.html

(5,6) 22.1.2018; https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-01/afrin-syrien-usa-rex-tillerson-kurden-offensive

(7) 29.8.2018; https://www.jungewelt.de/artikel/338716.syrien-krieg-warnung-vor-angriff.html

(8) Thomas Seibert; 28.1.2016; https://www.tagesspiegel.de/politik/syrien-gespraeche-syrische-kurden-wollen-genfer-verhandlungen-nicht-anerkennen/12890052.html

(9) Heiko Maas; 9.10.2019; https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/tuerkei-nordostsyrien/2254382

(11) 7.9.2019; https://orbisnjus.com/2019/09/07/cia-operation-timber-sycamore-offenbar-nicht-eingestellt-usa-beliefern-is-weiterhin-mit-waffen-bericht/

(12) 15.10.2014; https://www.rundschau-online.de/politik/-operation-inherent-resolve–usa-benennen-einsatz-gegen-is-527262

(13) https://www.inherentresolve.mil/About-CJTF-OIR/Coalition/; abgerufen: 13.10.2019

(14) 19.8.2016; https://life.ru/t/%D0%BD%D0%BE%D0%B2%D0%BE%D1%81%D1%82%D0%B8/893017/komanduiushchii_dss_v_sirii_amierikantsy_zaprieshchaiut_nam_razghovarivat_s_russkimi

(15) 20.8.2016; https://southfront.org/sdf-spokesman-confirms-the-group-does-nothing-without-signals-from-the-united-states-vdieo/

(16) Thomasz Konicz; 7.10.2019; https://www.heise.de/tp/features/Trump-auf-Putins-Spuren-4547469.html?seite=all

(17) Elke Dangeleit; 10.10.2015; https://www.heise.de/tp/features/Syrien-Russland-und-die-Kurden-3375915.html

(18) 5.9.2019; https://www.sueddeutsche.de/politik/eu-erdogan-droht-der-eu-mit-oeffnung-der-grenzen-fuer-fluechtlinge-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-190905-99-756097; dpa

(19) Nils Metzger, Lucas Eiler; 13.9.2019; https://www.zdf.de/nachrichten/heute/erdogans-umsiedlungsplaene-wohin-nur-mit-den-fluechtlingen-100.html

(20) Rainer Rupp; 26.1.2018; https://kenfm.de/tagesdosis-26-1-2018-ypg-fuehrung-haette-tuerkische-invasion-verhindern-koennen/

(21) Peter Baker, Lara Jakes; 10.10.2019; https://www.nytimes.com/2019/10/10/us/politics/trump-syria-turkey.html

(22) Eric S. Edelmann, Aykan Erdemir; 8.10.2019; https://foreignpolicy.com/2019/10/08/trumps-capitulation-erdogan-turkey-syria-kurds-destroys-us-credibility/

(23) Karin Leukefeld; 10.10.2019; https://deutsch.rt.com/der-nahe-osten/93358-grosse-spiel-nationen-im-norden/

(24) 12.10.2019; https://deutsch.rt.com/international/93402-angesichts-turkischem-einmarsch-in-syrien/

(25) 13.10.2019; https://sana.sy/en/?p=175768

(26) 13.10.2019; https://southfront.org/kurdish-led-sdf-says-it-reached-deal-with-damascus-syrian-army-marches-towards-kobani/

(27) 13.10.2019; https://www.tagesschau.de/ausland/syrien-tuerkei-147.html

(28) 14.10.2019; https://flutterbareer.wordpress.com/2019/10/14/syrische-armee-eilt-den-kurden-zur-hilfe/

(Titelbild) Nordsyrien, Rojava, Oktober 2019; Nate Hooper; 12.10.2019; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Changing_frontlines_of_the_Turkish_offensive_in_Rojava,_2019.gif; Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International

Von Ped

7 Gedanken zu „Die zweite Chance“
  1. hmm, auch wenn ich weitgehend übereinstimme, aber über die Berechtigung, das als eine „völkerrechtswidrige Intervention“ zu bezeichnen, kann man diskutieren, egal, was die MSM und „Weltgemeinschaft“ sagt. Die türkische Sicht der rechtlichen Lage ist nicht ganz von der Hand zu weisen, zumindest formaljuristisch.
    Die Türkei stützt sich auf das Abkommen von Adana mit Syrien aus dem Jahr 1998, das Ankara erlaubt, unter bestimmten Bedingungen in Syrien militärisch aktiv zu werden. Nach türkischer Lesart sind diese Bedingungener füllt. (Ob zu Recht, sei mal dahingestellt, ist aber jedenfalls diskutabel.)
    Damit ist die Einführung des Begriffs „völkerrechtswidrig“ in diesem Zusammenhang in jedem eine Propagandaformulierung, zumindest dann, wenn sich die türkischen Einheiten nach einiger Zeit wieder zurückziehen, also keine dauerhafte Besetzung oder Okkupation stattfindet. (und wieder ein Diskussionspunkt: was ist „dauerhaft“).
    Was anderes, und völlig unabhängig davon, sind Angriffe auf Zivilisten, aber was davon wo tatsächlich passiet ist, können wir momentan (noch) nicht beurteilen. Auch hier ist Propaganda von allen Seiten.
    D.h. nicht, dass ich Erdogans Handlungen toll finde, aber bei nüchterner Betrachtung sehe ich nichts, das nicht zuvor von den NATO-Einheiten überall in einem viel schlimmeren Maße, ohne diese weltweite gehäuchelte Empörung, wiederholt durchgeführt wurde.
    Also ist mehr sachliche Betrachtung mit zurückhaltender Wortwahl und weniger emotionsförderndes Wording angeraten.

    1. Auf das Abkommen von Adana habe ich im Text hingewiesen, auch auf die Nachvollziehbarkeit der türkischen Argumentation diesbezüglich. Aber auch das ist verkürzt, denn es war die Türkei selbst, die mit der aktiven Unterstützung terroristischer Milizen – und zwar bis zum heutigen Tage – dafür gesorgt hat, dass die SAA ihre Verpflichtungen aus dem Adana-Abkommen nicht mehr erfüllen konnte. Der primäre Rechtsbrecher ist deshalb für mich sehr klar die Türkei und was sie gegenüber Syrien betrieb, war von Beginn an ein Völkerrechtsbruch. Daher ist die Sache für mich auch formaljuristisch eindeutig.
      Herzlich, Ped

      1. stört mich trotzdem. Es ist eh schon zu viel Propaganda-Wording bei allen, und es gibt genügend, das man der Türkei vorwerfen kann, auf die Verwendung dieses Begriffes kommt es nicht mehr an. und erinnert nur an die vorgeschobene heuchlerische Entrüstung der Regierungsmedien und unserer Poltiker.
        Durch die ständige Verwendung von Propaganda-Superlativen werden die zudem abgenutzt, weil ständig rgendwo benutzt. Muss also nicht sein, in einem Blog, der ansonsten um Sachlichkeit und weniger Propaganda bemüht ist.

  2. Mittlerweile ist der Deal offiziell bestätigt, aber das Wörding im Originaltext stört mich; denn es ist davon die Rede, dass (von den Kurden) der syrischen Regierung „die Erlaubnis erteilt wurde“, in SDF-Gebiet einzudringen.
    Evtl. ist dieses Wording rein kurdisch-innenpolitisch zu verstehen, damit die Führer nicht ihr Gesicht verlieren, und das Umflaggen der besetzen Grenzpositionen, weg mit der SDF Flagge, nur die SAA-Flagge, könnte darauf ein Hinweis sein.,
    Es zeigt aber auch, dass es noch sehr weit weg ist von einer „bitte hilf“-Haltung, sondern immer noch mit übersteigertem Ego versucht wird, eigene Größe zu demonstrieren, wo keine mehr ist.
    Daraus könnte sich noch Konfliktstoff dann ergeben, wenn die Türkei raus ist und die Kurdenführer dann ein „Recht“ und eine „Belohnung“ einfordern.
    Da heute Abend die Nachricht kursierte, die USA wollen alles, ausgenommen Al-Tanf, binnen 30 Tagen räumen (ich glaub es, wenn ich es sehe), außerdem diese Woche die SAA eine Brücke über den Euphrat bei Deir Ez Zor gebaut hat und heute im äußerten Südwesten (südlich der Ölfelder) und nördlich von Deir Ez Zor (beim Staudamm) auf das andere Ufer gegangen sind, könnte sich ergeben, dass die SAA die Ölfelder und den Staudamm sichern kann (sofern Trump das mit Putin geklärt hat) und damit zwei sehr, für Syrien existenziell wichtige Bereiche, dauerhaft zurückerhält, was dann die Position gegenüber den Kurden drastisch verbessert bei nachfolgenden Verhandlungen. Das müssen wir abwarten, was in den kommenden Tagen geschieht.
    Andererseits ist eine Sicherung dieser beiden Gebiete wg. der IS-Zellen unbedingt notwendig. Mir graut bei dem Gedanken, die könnten den Staudamm sabotieren.

    1. Wenn erst einmal die US-Amerikaner tatsächlich abgezogen sind – warten wir es ab – wird auch der ganze anhängige Rattenschwanz sehr schnell das Weite suchen. Wie gesagt, wenn es so weit ist. Aber wenn, dann werden wir erleben, wie rasch sich das Thema Islamischer Staat in Syrien erledigt. Der IS ohne seine Zuchtmeister hat keinerlei Perspektive.
      Herzlich, Ped

  3. Unglaublich Trump hat einen Krieg beendet
    Die Franzosen ziehen sich auch zurück weil ohne die amerikanische Logistik gehts nicht!
    Wunderbare Entwicklung!
    Danke Ped für den hervorragenden Artikel
    Meine Empfehlung
    Eine Zeitachse der Ukrainekorruption die viel der hysterischen Politik der Demokraten erklärt.
    Unbedingt Sehenswert
    https://youtu.be/5nUZekJ3pfM

  4. Bin heute, zufällig, auf diesen Blog gestossen und freue mich sehr darüber, eine zusätzliche Informationsquelle mit effektiv qualitativ gutem Inhalt und ausgewogener Darstellung gefunden zu haben!
    Dem mir unbekannten Betreiber und Autor (Ped) zoll ich gerne meinen Respekt und künftige Aufmerksamkeit.


    Danke, Walter! Noch zu stillender Neugier Ihrerseits kann diese Seite behilflich sein: https://peds-ansichten.de/peds-ansichten/ (bisschen runter scrollen). Herzlich, Ped

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